ORDER 7161
Seit mehreren Jahrhunderten leben verschiedene deutschsprachige Siedlergruppen im Karpatenraum. Als erste Einwanderer erreichten Mitte des 12. Jahrhunderts Siedler aus dem heutigen Luxemburg das
damalige Königreich Ungarn. Sie sind als Siebenbürger Sachsen bekannt. Weitere deutschsprachige Siedlergruppen folgten, vor allem während des 18. und 19. Jahrhunderts, so beispielsweise Banater
Schwaben, Sathmarer Schwaben, Berglanddeutsche, Bukowinadeutsche. Ihre Siedlungsgebiete gehörten damals zu Österreich-Ungarn, mit dem Zusammenbruch der Donaumonarchie 1918 fielen sie an
Großrumänien.
Im Juni 1941, unter der Militärdiktatur von Ion Antonescu, trat Rumänien an der Seite Deutschlands in den Zweiten Weltkrieg ein. Am 23. August 1944, angesichts des bevorstehenden Einfalls
sowjetischer Truppen, wechselte Rumänien die Front und kämpfte fortan an der Seite der Alliierten weiter.
Zu den Folgen dieser Ereignisse zählt Stalins Geheimbefehl 7161 vom 16. Dezember 1944. Darin ordnete er die Aushebung aller deutschen arbeitsfähigen Zivilpersonen an, die sich auf den von der
Roten Armee befreiten Territorien Rumäniens, Jugoslawiens, Ungarns, Bulgariens und der Tschechoslowakei befanden. Am 6. Januar 1945 wurde die Deportation von ungefähr 70.000 Rumäniendeutschen in
sowjetische Arbeitslager angeordnet: Männer im Alter von 17 bis 45 Jahren und Frauen von 18 bis 30 Jahren waren davon betroffen.
Die Deportation der Deutschen zur Zwangsarbeit diente dem Wiederaufbau der sowjetischen Industrie, vor allem der Bergwerke und der Schwerindustrie im Donezk-Becken, und galt als
Reparationsleistung für die Zerstörungen während des Zweiten Weltkrieges. Bis Ende Januar 1945 wurden schätzungsweise 70.000 Rumäniendeutsche in Viehwaggons in Arbeitslager der ehemaligen UdSSR
gebracht. Wegen extremer Kälte, schwersten Arbeitsbedingungen und mangelhafter Nahrung kamen viele ums Leben. Arbeitsunfähig gewordene Deportierte brachte man im ersten Jahr mit
Krankentransporten hauptsächlich nach Rumänien, später in die sowjetisch besetzte deutsche Ostzone. Alle anderen Deportierten, die das harte Leben im Arbeitslager überlebt hatten, kehrten Ende
1949 in ihre Heimat zurück.
Marc Schroeder begann sein Dokumentarprojekt über die Deportation der Rumäniendeutschen im Jahr 2012. Während einer Entdeckungsreise – es interessierten ihn die historischen Verbindungen
zwischen Luxemburgern und den Siebenbürger Sachsen – hörte er zum ersten Mal von der „Russlanddeportation“ und stellte fest, dass diese Verschleppung nicht nur ihm, sondern vielen Menschen in
Rumänien weitgehend unbekannt war. Und das obwohl die Ereignisse längst wissenschaftlich erforscht und spätestens mit Herta Müllers Atemschaukel seit 2009 in das Blickfeld des literarisch
interessierten Publikums gerückt sind. Nach wie vor gehören sie aber zu den in der breiteren Öffentlichkeit verdrängten Episoden europäischer Nachkriegsgeschichte.
2013 mit dem Europa Grant for Cultural Journalists, einem Stipendium des Rumänischen Kulturinstituts Bukarest, ausgestattet, konnte Marc Schroeder seine Arbeit bald aufnehmen. Das Projekt
erstreckte sich letztlich über die folgenden drei Jahre (2012 bis 2014), in denen er über 40 ehemalige Russlanddeportierte in Rumänien aufsuchte. Er befragte sie, hörte zu, fotografierte sie beim
Erzählen, aber auch in ihrem Alltag. Er notierte und zeichnete Erinnerungen auf. Das dabei gesammelte Material erlaubt auf eindrucksvolle Weise eine Annäherung an die Identität dieser Menschen
als Angehörige einer Minderheit und verweist auf ihre traumatischen Erfahrungen in den sowjetischen Arbeitslagern.
Unter dem Titel „Immer war diese Hoffnung…“ wurden die Fotografien und ausgewählte Interviews am rumänischen Stand der Leipziger Buchmesse 2018 erstmals gezeigt. Der Erfolg und die große
Aufmerksamkeit, die das Projekt erhielt, wurde zum Ausgangspunkt einer Reihe von Einzelausstellungen in Rumänien, so etwa in der Gedenkstätte für die Opfer des Kommunismus und des Widerstands in
Marmaroschsighet / Sighetu Marmaţiei, im Kulturpalast in Jassy / Iaşi und im Frühjahr 2019 in der Stadtpfarrkirche in Hermannstadt / Sibiu.
Die Ausstellung in der Galerie InterArt in Stuttgart greift dieses Dokumentationsprojekt auf und setzt neue Akzente. Jenseits der Berichte über die Vergangenheit werden die Fotografien hier als
aktuelle Zeugnisse der Begegnung zwischen Fragendem und Befragten greifbar. Begleitende Landschaftsbilder, die die Reihe der Portraits gezielt durchbrechen, werden zu Sinnbildern zeitlicher und
räumlicher Distanzen, die die Formen des Erinnerns auf ganz eigene Weise prägen.
Gegenwärtig arbeitet Marc Schroeder an der Veröffentlichung des Fotobuchs ORDER 7161, das neben zahlreichen Zeitzeugenportraits auch Interviews und historisches Bildmaterial enthält. Sein
Musterbuch ist für den Luma Rencontres Dummy Book Award Arles 2019 nominiert.
Marc Schroeder
1974 geboren in Luxemburg; 1994 – 98 BWL Studium an der University of Bath, Great Britain;
1998 – 2009 Angestellter bei einer amerikanischen Großbank in London und New York;
2009 nimmt Marc Schroeder eine professionelle Laufbahn in der Fotografie auf und arbeitet seitdem als freischaffender Dokumentarfotograf an Langzeitprojekten über Themen, die ihn faszinieren und persönlich berühren. Marc Schroeder lebt in Luxemburg, Berlin und Lissabon.
Vernissage 9.8.2019, 20 Uhr
Begrüßung Klaus Bushoff
Einführung Dr. Heinke Fabritius
anschließend Künstlergespräch mit Marc Schroeder
Dauer der Ausstellung 10.- 31.8.2019
Die Ausstellung ist ein Kooperationsprojekt
der Galerie InterArt mit der Kulturreferentin für Siebenbürgen
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